Interview

Richtungswechsel: „Wir arbeiten nicht daran, aus der Inhaftierung von Menschen Profit zu schlagen“

Bevor Tamara Höfer Richtungswechsel gründete, arbeitete sie als Justizvollzugsbeamtin, um das System von innen heraus kennenzulernen und zu verstehen, was die Menschen prägt. © Richtungswechsel
Bevor Tamara Höfer Richtungswechsel gründete, arbeitete sie als Justizvollzugsbeamtin, um das System von innen heraus kennenzulernen und zu verstehen, was die Menschen prägt. © Richtungswechsel
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Wie wird man den Stempel los, den einem die Gesellschaft aufdrückt, wenn man einmal in die falsche Richtung abgebogen ist? Die Niederösterreicherin Tamara Höfer ist ehemalige Gefängnisbeamtin und kämpft für Gerechtigkeit. 2022 hat sie Richtungswechsel gegründet. Ihr Verein verfolgt eine besondere Vision: die soziale Integration von derzeitigen und ehemals inhaftierten Personen.

„Wir müssen bereit sein, hinzusehen und zu investieren“

Tamara Höfer ist nach eigenen Angaben in Österreich in einem liebevollen, stabilen Umfeld aufgewachsen. Sie hatte Zugang zu Bildung, Unterstützung und sicheren Rahmenbedingungen. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass „Herkunft und Umfeld darüber entscheiden, welche Chancen einem Menschen im Leben offen stehen. Diese Erkenntnis hat mich tief bewegt und meinen beruflichen Weg geprägt.“

Also ging sie nach Manchester, um dort als Justizvollzugsbeamtin zu arbeiten. „Ich habe gesehen, wie viel Potenzial in der Arbeit mit inhaftierten Personen steckt – wenn wir bereit sind, hinzusehen und zu investieren“, so Höfer. Nach weiteren Stationen bei den Vereinten Nationen und im englischen Justizsystem in der Strafvollzugsforschung gründete sie Richtungswechsel in Österreich. „Mit meiner Organisation setzen wir uns dafür ein, Strukturen zu schaffen, die Entwicklung ermöglichen – sowohl für inhaftierte Personen als auch für die Menschen, die mit ihnen arbeiten.“

Leidenschaft gilt den Mitarbeitenden im Justizvollzug

Während Höfer als Gefängnisbeamtin arbeitete, habe sie viel erlebt und gemerkt, „wie vielschichtig die Herausforderungen von inhaftierten Personen sind“. Besonders betonte sie im Interview mit Trending Topics ihren Respekt für die Mitarbeitenden im Justizvollzug. Diese würden oft zwischen Systemansprüchen und individuellen Schicksalen stehen und trotz Überlastung und Unsicherheit tagtäglich versuchen, Menschlichkeit zu bewahren. „Ich bin überzeugt: Sie sind der Schlüssel für echte Veränderung“, so Höfer.

Evidenzbasierter Ansatz für (Wieder-)Integration

Richtungswechsel soll also helfen, „das System Justizvollzug neu zu denken – ganzheitlich, evidenzbasiert und vor allem mit allen Betroffenen im Zentrum“.

Damit dies gelingt, hat Höfers Verein einige Initiativen ins Leben gerufen, etwa das Champions Community-Programm. Es handelt sich um ein einjähriges Leadership-Training für Führungskräfte im mittleren Management von Justizanstalten in Malta, Deutschland und Tschechien. Das Programm soll durch individuelles Coaching, Mentoring sowie internationalen Austausch jene stärken, die direkt mit Mitarbeitenden und inhaftierten Personen arbeiten und die Kultur vor Ort prägen.

Richtungswechsel hat außerdem im Mai 2025 die erste österreichische Jugendhaftkonferenz in Salzburg organisiert. Mehr als 125 Fachvertreter:innen aus 16 Ländern nahmen daran teil und haben laut der Gründerin aufgezeigt, dass erfolgreiche Konzepte in Europa bereits existieren und (für Österreich) adaptiert werden können, so Höfer.

Kleinteilige, sozial-integrative Hafthäuser für Jugendliche

Ein Projekt habe sich auf der Konferenz als besonders interessant erwiesen: kleinteilige, sozial-integrative Hafthäuser für Jugendliche, basierend auf dem Konzept des Rescaled – der europäischen Bewegung für kleinskalige Hafthäuser. Diese würden Betroffenen laut Höfer echte Perspektiven auf Bildung, Teilhabe und Wiedereingliederung bieten. In einigen europäischen Ländern, etwa in den Niederlanden, Belgien und Deutschland, sind Konzepte wie diese bereits aktiv.

Die Idee wurde nicht nur als Vision, sondern als umsetzbare Möglichkeit wahrgenommen. Jetzt geht es darum, diesen Impuls weiterzutragen – durch konkrete Hospitationen bei bestehenden Best-Practice-Modellen und die Entwicklung eines passenden Konzepts für den österreichischen Kontext“, so Höfer.

Richtungswechsel ist hauptsächlich EU-finanziert

„Ich habe im November 2022 gegründet. Währenddessen und bis 2024 gab es kleine Förderungen. In dieser Zeit haben wir uns auf die Analyse des europäischen Ökosystems und die Vergrößerung unseres Netzwerks fokussiert“, so Höfer gegenüber Trending Topics.

Inzwischen ist Richtungswechsel hauptsächlich EU-finanziert, kleinere Summen stammen von privaten Stiftungen beziehungsweise sind Spenden sowie kleine Förderungen und gewonnene Preise.

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Keine Märkte, kein Profit – sondern systemischer Wandel

Auf die Frage, auf welchen Märkten sie mit Richtungswechsel aktiv ist, antwortete Höfer, dass der Begriff „Markt“ eine problematische Konnotation mit sich bringt. Er suggeriere wirtschaftliches Interesse an einem System, das auf Freiheitsentzug basiert. Daher spricht sie im Kontext von Richtungswechsel bewusst nicht von Märkten und möchte auch nicht als Impact-Unternehmer:in bezeichnet werden. „Wir arbeiten nicht daran, aus der Inhaftierung von Menschen Profit zu schlagen“, stellte Höfer klar.

„In unserer Arbeit geht es um gesellschaftliche und systemische Veränderungen für einen Justizvollzug, der den Ansprüchen der modernen europäischen Gesellschaft entspricht. Grundsätzlich sind wir mit unseren Projekten in ganz Europa tätig, mit einem Fokus auf den Staaten der Europäischen Union.“

Diese Projekte stehen an

Höfer und das Team von Richtungswechsel arbeiten derzeit parallel an mehreren Projekten. Eines der neueren sei M-Pave. Es handle sich um ein einjähriges Erasmus+-Programm, das derzeit in Rumänien zu einem strukturierten Mentoringprogramm entwickelt wird. Das Ziel: Vollzugsbeamte als Mentor:innen ausbilden, die wiederum neue Kolleg:innen begleiten sollen. „Dabei stehen Reflexion und emotionale Intelligenz ebenso im Zentrum wie Konfliktlösung, Kommunikationsfähigkeiten und Führungskompetenz“, teilte Höfer mit.

Das Programm Workpris will die Zusammenarbeit über Sektorgrenzen hinweg stärken. Mitarbeitende aus dem dritten Sektor, also NGOs und Co., sollen durch gezielte und flexible Ausbildungen besser in den Strafvollzug eingebunden werden. „Durch ein transnationales Netzwerk lernen Fachkräfte unterschiedlicher Organisationen voneinander und können einfacher mit den Einrichtungen zusammenarbeiten.“

Das ist bei weitem noch nicht alles. Unter den von Höfer vorgestellten Initiativen befindet sich auch das EU-weit angelegte Resize-Projekt – „unser umfangreichstes Vorhaben, das von 2025 bis 2029 ausgelegt ist“, so Höfer. Es soll ein einheitlicher Qualifikationsrahmen für Vollzugspersonal entstehen. Gemeinsam mit 25 Partnern will man Ausbildungspläne und Curricula entwickeln, die mit kleinen, in die Gemeinschaft eingebundenen Hafthäusern kombiniert werden.

Das treibt die Gründerin täglich an

„Was mich täglich antreibt, ist die tiefe Überzeugung, dass unser Umgang mit Gerechtigkeit grundlegend hinterfragt und neu gedacht werden muss.“ Deshalb will Höfer Räume schaffen, in denen nicht nur die Frage nach Schuld gestellt wird, sondern auch nach Verantwortung, Wiedergutmachung und echter Zukunftsperspektive.

In ihrer Arbeit, vor allem im Austausch mit Personen und Organisationen, die sich der Opferhilfe widmen, bemerkt sie immer wieder, dass sich zu wenig verändert. Viele Opfer haben in ihren Augen im Strafprozess kaum eine Stimme. Dies geschähe zwar oft zum Schutz ihrer Privatsphäre oder wegen emotionaler Belastung, entspricht aber häufig nicht ihren Bedürfnissen.

„Viele Betroffene wünschen sich mehr als nur juristische Aufarbeitung: Sie suchen Erklärungen, aufrichtige Entschuldigungen, Reparationen und das Gefühl von Sicherheit zurück. Die Sicherheit, dass das, was ihnen widerfahren ist, nicht wieder passieren wird. Weder ihnen noch anderen“, so Höfer.

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